Mercè Rodoreda im europäischen Exil
von Mercè Ibarz
Aus dem Katalanischen von David Klein
Als das Franco-Heer sie ins Exil trieb, war Mercè Rodoreda eine moderne Avantgarde-Schriftstellerin: Die Parodie des zeitgenössischen Populärromans, die Verfremdung der Tradition und der markante Einfluss des Kinos hatten ihr Schaffen mitgeprägt. Sie war 31 und hatte fünf Romane veröffentlicht, sich in der barcelonischen Presse und in gesellschaftlichen Debatten seit Ausrufung der Republik im Jahr 1931 regelmäßig zu Wort gemeldet, war während des Bürgerkriegs im Radio zu hören gewesen und hatte an einem internationalen Schriftstellerkongress teilgenommen. Ihr letzter Roman, Aloma, der in den Kriegswirren von 1938 erschien, hatte unter den Lesern gute Aufnahme gefunden. Der Roman unterschied sich deutlich von den vier vorangegangen, doch trug er noch einige jener Züge der ersten Moderne, die – in katalanischer wie in anderen europäischen Sprachen – den Roman des 19. Jahrhunderts zu dem Roman des 20. Jahrhunderts machen sollten, in dem die Massengesellschaft – wie schon damals zu erkennen – eine unwiderlegbare kulturelle Logik begründete.
Als Rodoreda Aloma 1968 überarbeitete und im Jahr darauf veröffentlichte, war sie nicht mehr die moderne Schriftstellerin der dreißiger Jahre, sondern eine durch und durch zeitgenössische Autorin. Das heißt, sie musste die künstlerischen Strategien aus den Trümmern der Nachkriegszeit neu entwerfen, und sie tat dies mit vollem Bewusstsein. So erging es damals zwar allen Exilschriftstellern, die in der Literaturgeschichte Spuren hinterlassen haben, doch kam im Fall Rodoredas noch eine schwere Bürde hinzu: nachdem der Franquismus den Kommunikations- und Diskussionskontext ihrer Jugend zur Gänze zerstört hatte, konnte sie auch auf jenen des Exils nicht zählen. Denn im Gegensatz zum deutschsprachigen Exil schufen die katalanischen Exilanten dort, wo es möglich gewesen wäre – in Mexiko – kein eigenes verlegerisches Netzwerk.
Diejenigen, die sich in Mexiko niederließen, gründeten allenfalls Zeitschriften (literarische und politische), doch fehlte es an einem Pendant zu der Verlagsstruktur, die beispielsweise das deutschsprachige Exil im Land hatte oder das russische in Paris. Natürlich ist die Sozialgeschichte der katalanischen Sprache nicht mit jener der deutschen oder russischen vergleichbar, doch scheinen mir diese Unterschiede keine ausreichende Erklärung zu sein für die Tatsache, dass das katalanische Exil keinen Arbeits- und Verlagszusammenhang schuf. Vielmehr sei eine Parallele zu einem anderen Exilanten gezogen, dem Filmregisseur Luis Buñuel, insbesondere der Abendmahlsszene aus seinem Film Viridiana – wie Rodoredas Auf der Plaça del Diamant aus dem Jahr 1962 –, einer Allegorie des Exils, in der die Parias, die aus der Geschichte Ausgestoßenen, das Haus stürmen, sich gegenseitig bekriegen und Viridiana, die gewissermaßen die verlorene und entfremdete Heimat symbolisiert, vergewaltigen. Hatte Buñuel mit dem spanischen Exil zu kämpfen, das seine Arbeit im franquistischen Spanien nicht tolerieren konnte, musste Rodoreda zusehen, wie ihr das katalanische Exil den Rücken kehrte, als sie sich 1962 mit Auf der Plaça del Diamant auf der behutsam wiedererrichteten Verlagsszene Barcelonas zurückmeldete: dass Colometa, die Protagonistin des Romans keine Exilantin und politisch organisierte Widerstandskämpferin ist, ihre Stimme nichts Episches und nichts Heroisches hat, war ganz und gar nicht nach dem Geschmack der anderen Exilschriftsteller.
Auf der Plaça del Diamant, das in Deutschland bekannteste und seit der Übersetzung aus dem Jahr 1979 immer wieder aufgelegte Werk Rodoredas, gefiel auch in Barcelona nicht: weder der Jury des Preises, für den die Autorin den Roman eingereicht hatte, noch der Kritik. Es waren die Leser, die dem Werk im Jahr darauf den Durchbruch verschafften und Rodoreda seither eine treue Stütze blieben. Andere Künstler waren allmählich nach Katalonien zurückgekehrt, einige bereits während des Zweiten Weltkriegs (Joan Miró und Carles Riba aus dem französischen Exil) oder danach (Joan Sales aus Mexiko). Es war eine Entscheidung für den Wiederaufbau der Kultur im Inneren. Rodoroda kehrte nicht zurück, sie ging auch nicht nach Übersee, sondern blieb in Europa. Hautnah erlebte sie noch einen zweiten Krieg und eine weitere Nachkriegszeit. In vielen ihrer Briefe, in ihrer Lyrik und ihren Erzählungen (überwiegend zwischen 1939 und 1953 geschrieben) hat sie ein literarisches Zeugnis dieser Zeit hinterlassen. Ihre lyrische Produktion ist beachtlich und übersteigt bei weitem die in Exilzeitschriften abgedruckten Gedichte.
Lyrik und Erzählungen sind in Rodoredas Werk ein untrennbares Ganzes, thematisch bestimmt vom Verlust der Heimat, von Krieg und Exil. Nach ihrer endgültigen Rückkehr nach Katalonien nimmt sie diese Themen als Kernelemente ihrer abschließenden, radikalen Geopoetik in Angriff. Daraus entstehen Reisen ins Land der verlorenen Mädchen und Weil Krieg ist, beide nach Francos Tod im Jahr 1980 veröffentlicht und gemeinsam mit El carrer de les Camèlies [Der Carrer de les Camèlies] die einzigen Werke, die nicht aus früheren Fassungen der fünfziger Jahre hervorgegangen sind. Es war eine radikale, irrealistisch gefärbte Poetik, die Rodoreda seit langem praktizierte. Sie hatte sie mit Reise ins Land der verlorenen Mädchen und Der Tod und der Frühling initiiert und kombinierte sie mit figurativen Bildern kafkascher Prägung die ich hier in der Reihenfolge ihres Entstehens aufzähle: Jardí vora el mar [Garten am Meer], Der zerbrochene Spiegel und Auf der Plaça del Diamant. Kafka ist eine Referenzgröße, zu der sich Rodoreda in den Vorworten ihrer Romane regelmäßig bekennt. Er ist in den fünfziger Jahren die gemeinsame, zentrale Bezugsfigur unterschiedlichster Schriftsteller, deren literarisches Schaffen vor den beiden Kriegen von 1936–1945 begonnen hatte.
Dies trifft auch auf Anna Seghers und den Exilroman zu, die für Rodoreda ein brauchbares Modell darstellen. In den zwischen 1939 und 1959 wiederholt unternommenen Versuchen, sich erneut dem Roman zuzuwenden, verfolgt die Autorin eine Methode, die sich mit jener von Seghers’ Transit vergleichen lässt, einem Roman, der im Übrigen die oben angesprochenen Unterschiede zwischen dem deutschsprachigen und dem katalanischen Exil deutlich macht: Die ersten Ausgaben von Seghers’ Roman – die Autorin lebte von 1933 bis 1940 im mexikanischen Exil – erschienen auf Spanisch (Mexiko 1944) und Englisch (Vereinigte Staaten 1944), während die erste deutsche Ausgabe 1951 herauskam.
Seghers und Rodoreda gehen von der unmittelbaren Wahrnehmung aus, vom Eindruck der Wirklichkeit, und unterziehen das Reale anschließend der literarischen Gestaltung. Beide schreiben mit einer Poetik, die von der Tatsache geprägt ist, dass die literarischen Mittel der Vorkriegszeit in der Nachkriegszeit ihre Tauglichkeit eingebüßt haben. Seghers greift auf Muster der Populärliteratur wie z. B. den Thriller zurück, während Rodoreda aus der kulturellen Tradition schöpft. Sie benützen Chroniken, mündliche Erzählungen; Monologe, die sich dem stream of consciousness der zwanziger und dreißiger Jahre (Proust, Joyce und Woolf) mit seiner zwar ambivalenten, doch grundlegenden Sicherheit des Subjekts nicht zurechnen lassen. Die Erzählerinnen und Erzähler – anonym in Transit, meist ebenso namenlos bei Rodoreda – sind keine Subjekte mehr, es sind Niemande. Sie erzählen ihre Geschichte als Teil eines therapeutischen Prozesses zur Rückgewinnung der eigenen Identität, die sich mit den überlieferten Instrumentarien nicht mehr rekonstruieren lässt. Um der Krise des Individuums beizukommen, bedient sich diese Romankonzeption – die Rodoreda zuerst in Erzählungen erprobt – der primären, ursprünglichen Form persönlicher Kommunikation.
Sie standen vor einem Erbe ohne Testament, hatte der Lyriker René Char während des Krieges festgestellt. Daher gelte es als Primitiver zu handeln und als Stratege vorzusorgen, hatte er hinzugefügt. Für die katalanische Sprache bedeutet dies die ebenso paradoxe wie phantastische Gelegenheit, die gesprochene Sprache zu Literatur zu formen und dem Katalanischen endlich jenen Roman und jene europäische Dimension zu geben, die in den dreißiger Jahren immer wieder gefordert worden waren – eine Aufgabe, die Mercè Rodoreda voll erfüllt. Doch nicht allein die Schriftsteller hatten das Erbe geschändet und verwaist vorgefunden. Ich habe Joan Miró erwähnt, mit dem Rodoreda zusammenarbeiten wollte. 1940 malt Miró in der Normandie seine Constel·lacions, erlebt den Einmarsch der Nazis in Paris und kehrt nach Barcelona zurück, in der Angst, nie wieder malen zu können. Im selben Jahr stirbt Paul Klee. In Paris entwirft Jean Dubuffet die Art brut und Henri Michaux die Art autre. Michaux’ Schreiben ist für die Rodoreda der Nachkriegszeit so entscheidend, dass seine doppelte Betätigung (Schriftsteller und Maler) die Autorin vermutlich zur Ausübung der bildenden Kunst bewegte. Das Werk dieser Künstler ab 1940 ist die wichtigste Anregung für Rodoreda in ihrem einsamen Prozess der Aufarbeitung, den sie zwischen 1945 und 1955 in Paris unternimmt. Sie schreibt Lyrik und widmet sich ausgiebig der bildenden Kunst: Collagen, Gouachen, Aquarelle. Penibel folgt sie Klee, Miró und Dubuffet und erfährt eine Wandlung. Danach wird sie endlich wieder Romane schreiben können, die eine neue, geläuterte Form aufweisen werden, weil sie die für die Zeit der Rekonstruktion adäquaten Instrumente einsetzen („Themen, Wahl der Stoffe, Mittel der Umsetzung, Rhythmus, Art des Schreibens etc.“). Die etwa hundert Arbeiten auf Papier, die sie geschaffen hat, geben einen anschaulichen Einblick in die Werkstatt einer Autorin. Freiheit, Leichtigkeit und Ungebundenheit waren Klees Schlüsselbegriffe. Es waren ebenso unentbehrliche Begriffe für Miró und Dubuffet, die ihn überlebten, Europa nicht verließen und einen weiteren Begriff hinzufügten: den des Grotesken.
Es war eine kalkulierte Strategie, die es verlangte, wie ein Primitiver, ein Kind, ein Gestörter, der Dorfnarr zu handeln. Das sind die Stimmen der Rodoreda in der Nachkriegszeit. Sie bilden ihr dauerhaftes literarisches Vermächtnis. Ein Erbe, das in der Tat ohne Testament ist und dennoch viel lehrt über das Schreiben in Europa nach der Katastrophe.
"Schwung" von Hasan Hüseyin Deveci