„ICH HABE KEINE ANTWORTEN – ICH HABE EINEN ROMAN“
Jáchym Topols vierter Roman, Kloktat dehet, deutsch Zirkuszone, der in seiner Jugend während der Zerschlagung des Prager Frühlings spielt, wird oft als tschechische Version von Günter Grass‘ Die Blechtrommel bezeichnet. Wie die meisten anderen von Topols Werken wurde Kloktat dehet in zahlreiche Sprachen übersetzt: 2007 erschien die deutsche Übersetzung von Milena Oda und Andreas Tretner im Suhrkamp Verlag. Die englische Übersetzung mit dem Titel Gargling with Tar stammt von David Short und gewann kürzlich den begehrten Foreign Fiction Preis 2011 der britischen Tageszeitung The Independant. Beim Manchester Literatur Festival im Oktober 2010 sprach Topol mit Richard W. Jackson über Politik, Geschichte und Übersetzung. Interview in bearbeiteter Fassung, deutsch von Antje Kleine-Wiskott und Andreas Jandl
„Ich schäme mich“, antwortet Jáchym Topol auf die Frage, ob er gerne Menschen trifft, die seine Werke bewundern. „Ich bemühe mich nun seit zehn Jahren, aber empfinde das Sprechen und Beantworten von Fragen noch immer als mühsam.“ In herzlichem, doch zögerlichem Englisch gibt er offen zu, dass er Humor und Scherze dazu benutzt, um Fragen aus dem Weg zu gehen: „Die wahren Antworten auf die wahre Fragen findet man in meinen Büchern.“ Das stimmt, denn Topols Literatur ist durchdrungen von einer tiefgreifenden Reflexion über die Vergangenheit, insbesondere die Geschichte seines Heimatlandes: „Alles was ich zu sagen habe, steht dort. Meine Bücher sind voll von ernsthaften Gedanken. Auf Lesereise bin ich nicht so gerne. Ich war schon in vielen Ländern unterwegs – Slowenien, Frankreich und Deutschland. Für einen Schriftsteller ist es besser, alleine zu sein.“
Umso überraschender ist es, dass Jáchym Topol sich derzeit in Großbritannien aufhält, um Zirkuszone zu präsentieren – seinen jüngsten Roman in englischer Übersetzung. Die Lesung findet als Veranstaltung des Manchester Literatur Festivals im Oktober 2010 bei der International Anthony Burgess Foundation statt. Das fasziniert Topol: „Das ist hier mein englisches Zuhause“. Interessanterweise erfahren wir, dass Burgess‘ Erfolgsroman A Clockwork Orange Topol in seiner Jugend sehr prägte. „Ich war 16, als ich den Roman las. Es war eine illegale Übersetzung, auf Kohlepapier abgetippt“, erzählt er. „Das Buch war in meiner Heimat verboten. Und ich war von seiner Sprache geschockt.“ Geschockt nicht von Burgess‘ farbenfroher Vorstellungskraft, wie es scheint, sondern eher davon, wie der Schriftsteller aus Manchester mit der russischen Sprache umgeht.
„Kann mir jemand sagen, was für Beziehung Burgess zu Russland hatte?“, fragt Topol ins Publikum. „Nein? Ich war erschrocken und geschockt, als ich diese russischen Worte las. Ich dachte «Dieser Brite glaubt wirklich, dass unsere Zukunft so aussieht.» Ich las ihn seltsamerweise als einen Propheten der Apokalypse.“
Topol (Jahrgang 1962) war gerade sechs Jahre alt, als die sowjetisch geführten Armeen des Warschauer Pakts im August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten. Nach zwanzig Jahren Kommunismus durchlebte die Tschechoslowakei Anfang 1968 unter der Reformpolitik des Präsidenten Alexander Dubček eine kurze Tauwetter-Periode. Die Sowjetunion sah dies als mögliche Bedrohung, unterdrückte mit dem Einmarsch jegliche Form der Liberalisierung und holte die Tschechoslowakei schnell wieder zurück in den Sowjetblock.
Zirkuszone thematisiert also genau jene Zeit, und der Autor betont mit Nachdruck, dass das Leben in der Tschechoslowakei in dieser Phase unerträglich wurde. „Nach dem Einmarsch lebten wir in einem Staat der Demütigung. Es dauerte ein Jahr, bis das ganze Land stillgelegt war, in den 1970er Jahren begann dann die richtige Repression.“
Topol erinnert sich noch gut an diese Zeit. Er ist inzwischen als tschechische Kulturikone bekannt und repräsentiert die ‚Untergrundgeneration‘, die während der 70er und 80er Jahre heimlich operierte. Schon in jungen Jahren kam er mit regierungsfeindlichen Gedanken in Berührung (sein Vater, Josef Topol, war Dramatiker und engagierter Dissident) und war der jüngste Unterzeichner der Menschenrechtsinitiative Charter 77. Wegen seines Engagements für die Samisdat-Literatur – 1982 gründete er Viollit und 1985 Revolver Review (mit Spezialisierung auf tschechische Literatur) – wurde er vom Regime verhört und kam aufgrund seiner Untergrundaktivitäten auch ins Gefängnis. Unter anderem hatte er an einer Schmuggelaktion in Kooperation mit der polnischen Solidarnos-Bewegung teilgenommen.
Zirkuszone ist eine fantastische Erzählung über den Einmarsch im August ’68. Erzählt werden die Abenteuer des kleinen Waisenjungen Ilja. Die Geschichte wird aus Kinderaugen beschrieben und bekommt somit überzogene, ungenaue Züge. Topol selbst beschreibt den Text als „ein Buch, das nicht auf Fakten basiert, sondern eher eine Art Nacharbeitung der Vergangenheit darstellt.“ Der Roman wird gerne mit Günther Grass‘ Blechtrommel verglichen und funktioniert als trostlose und humorvolle Satire auf das, was Topol höhnisch „das größte Ereignis des 20. Jahrhunderts“ nennt: „den tschechisch-russischen Krieg“. Während des Einmarschs bot die tschechoslowakische Armee wenig Widerstand. Im Roman wird Ilja von der Armee eingezogen, nur um kurze Zeit später die Fronten zu wechseln, als er zufällig den deutlich größeren Armee-Einheiten der Sowjets begegnet. „Ich bin sehr stolz darauf, wie viele Militärs nach Tschechien geschickt wurden. Aus Geschichtsbüchern weiß ich, dass es der zweitgrößte Panzereinmarsch seit der Schlacht von Kursk war,“ so Topol.
Ein paar Augenblicke an diesem Abend lassen einen gewissen Nationalstolz in seinen Worten durchschimmern: „Natürlich kann ich nationalistisch sein“, sagt er später. „Ich kann sehr stolz sein.“ Doch spürt man keinen moralischen Zeigefinger in seinen Werken. „Ich schreibe für mich selbst, um die Geschichte zu verstehen.“
Für Topol war es wichtig, Zirkuszone zu schreiben, um ein Ereignis aus der tschechischen Geschichte zu thematisieren, das in seinen Augen weitestgehend ignoriert worden ist. Es sorgt ihn, dass die heutige junge Generation in Tschechien kein Interesse daran hat, ihre eigene, jüngere Geschichte zu verstehen. „Die 1989 geborenen Tschechen sind heute über 20 Jahre alt. Diese Phase der Geschichte ist vollkommen in Vergessenheit geraten. Ich finde es lustig, dass die jungen Leute diese Zeit als eine Revolution sehen.“
Topol möchte nicht das Gewissen der Nation sein, schreibt jedoch ganz klar mit einem eigenen Gewissen. Er zeigt starke Empathie mit dem, was die Tschechen zu Zeiten des repressivsten Kommunismus durchmachen mussten und mit dem Leid, das durch den sozialen und politischen Umbruch in der ganzen Region ausgelöst wurde. Daher scheint seine Arbeit oft dazu zu dienen, die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren und aufzuklären über eine Zeit, die viele nicht erlebt haben. Er selbst jedoch sagt: „Ich habe keine Antworten, ich habe einen Roman. Als ich jung war, war Geschichte wie eine Waffe… Ich kämpfte für Freiheit, doch heute fühle ich mich wie ein Zensor. Ich habe großes Glück gehabt. Dieses Buch wird von den Lesern geschätzt und hat sogar einen Preis gewonnen.“
Später erzählt er mir: „Ich habe ein naives Verständnis von Geschichte. 1968 sah ich Fotos der Studentenunruhen in Frankreich, Hippies im Westen, die Spaß hatten… Wir allerdings nicht. Fälschlicherweise nahm ich an, dass es in der Tschechoslowakei auch so sein würde. Die Geschichte des kleinen Jungen ist rein phantasmologisch.“
Zirkuszone benutzt tatsächlich surreale Metaphern und halluzinatorische Gedankengänge. Sich durch die Erinnerungen eines sehr jungen Erzählers mit der Geschichte auseinander zu setzen, gestattet dem Autor, seiner Fantasie freien Lauf lassen zu können. Für einen englischen Leser ist das vielleicht verwirrendste Detail des Romans der Reisezirkus, der die einmarschierende Armee des Warschauer Paktes begleitet. Für Topol jedoch „ist der Zirkus eine gute Metapher, und basiert außerdem auf der Wirklichkeit.“ Sich vorzustellen, was passieren kann, wenn ein Wanderzirkus den Anschluss an seine Garnison verliert und frei und lautstark durch die tschechoslowakische Landschaft zieht, gestattet eine subversive, ungewöhnliche Sichtweise auf den politischen Terror. „In der Sowjetunion war Zirkus sehr beliebt“, so Topol. „Andere Ausdrucksformen waren untersagt. Der Zirkus nicht: Er war ein Geschenk an die Bevölkerung. Es war einfach, sich dem Zirkus anzuschließen. Und wie bei den fahrenden Leute, bot der Zirkus die Möglichkeit, das Weite zu suchen.“
Topols Bücher sind heute ein Aushängeschild der tschechischen postkommunistischen Literatur und werden europaweit wahrgenommen und gelesen.
Zirkuszone wurde ins Französische, Polnische, Holländische, Deutsche, Italienische, Ungarische und Norwegische übersetzt. Für einen Roman, der sich mit einem so spezifischen Moment der Geschichte befasst, zeugt die große Leserschaft von Topols entsprechend großem Talent. Auf die Frage, ob es seine Absicht war, neben den jungen Tschechen auch Leser in anderen Ländern über den Einmarsch 1968 aufzuklären, antwortet er: „Nein. Das Wissen über die tschechische Geschichte ist im Westen nicht sehr ausgeprägt. Aber als Schriftstellerhabe ich die Freiheit, kreativ zu sein.“
Das Gespräch wechselt schnell zur Frage des Status der modernen tschechischen Literatur auf dem englischsprachigem Markt. „Ich denke nicht, dass die tschechische Literatur unterbewertet wird,“ meint er „Jeder möchte auf Englisch veröffentlicht werden. Aber es ist unmöglich, dass alle Autoren veröffentlicht werden.“ Topol selbst schwärmt nur von einigen wenigen: Markéta Pilátová, Emil Hakl, Petra Hůlová, Petr Placák, und Jan Balabán. Von diesen Autoren sind lediglich Hakl und Hůlová ins Englische übersetzt worden – Hakls Of Kids and Parents erschien 2008, Hůlovás All This Belongs to Me kam 2009 heraus. „Bei manchen Autoren kann man sagen, dass ihre Themen in Tschechien bedeutend sein mögen, nicht aber im englischen Sprachraum. Manche tschechischen Werke sind vielleicht einfach nicht für ein englischsprachiges Publikum geeignet“, fügt er hinzu. „Zum Beispiel Balabán, der leider Anfang des Jahres verstarb – seine Kurzgeschichten sind gut, da würde ich eine englische Übersetzung begrüßen. Doch von seinen Romanen vielleicht eher nicht.“
Neben Zirkuszone wurde von Topol lediglich sein erster Roman, City, Sister, Silver ins Englische übertragen. Nachdem das Original 1994 erschien, dauerte es sechs Jahre, bis das Buch auf den englischsprachigen Markt kam. Für ihn als Autor ist dies ein verwirrender und ärgerlicher Aspekt. „Wenn deine Bücher übersetzt werden“, so erzählt er, „musst Du plötzlich Fragen beantworten zu einem Werk, dass Du vor Jahren geschrieben hast – das ist lästig. Der Übersetzer kennt vielleicht nicht die Hintergründe des Romans. All diese Details, die du im Kopf haben musst. Und ein Schriftsteller muss sich auf sein Schreiben konzentrieren.“
Was ärgert ihn noch am Thema Übersetzung? „Der ganze Prozess ist für den Autor sehr anstrengend. Man muss mit dem Übersetzer Briefe hin- und herschicken, ein Menge Fragen aus verschiedenen Ländern beantworten. Einmal hatte ich ein Problem mit einer französischen Übersetzung. Der Verlag wollte seinen eigenen Übersetzer engagieren, und ich wollte meinen. Am Ende weigerten sie sich, das Buch zu übersetzen und ich meinte ‚Tja, dann macht es eben nicht‘. Schließlich konnte ich mich durchsetzen und sie machten es doch.“
Derzeit wird sein neuester Roman Chladnou Zemí, deutsch Die Teufelswerkstatt (übersetzt von Eva Profousovà, Suhrkamp Verlag 2010), auch ins Englische übersetzt. Als Gewinner des Jaroslav Seifert Preises 2010 – des angesehensten Literaturpreises in der Tschechischen Republik – setzt Die Teufelswerkstatt Topols lyrische Reflexion über die Geschichte von Zentraleuropa fort, mit Fokus auf den Genozid des belorussischen Volkes im Zweiten Weltkrieg.
Noch hat Topol die Arbeit an seinem siebten Roman nicht aufgommen. Er arbeitet und ernährt seine Familie weiterhin als Journalist und träumt von einem eigenen „netten, ruhigen Häuschen in Prag“. Wenn man ihn so sprechen hört, scheint es, dass ihm das Schreiben, trotz seiner vielen Veröffentlichungen, nicht leicht von der Hand geht. „Mein letztes Buch habe ich in Deutschland geschrieben. Die meisten meiner Bücher wurden nicht in der Tschechischen Republik geschrieben.“ Sobald seine Familie erwähnt wird, lächelt er immer liebevoll. Am besten scheint ihm das Schreiben zu gelingen, wenn er alleine ist, „Ich mag am liebsten die Isolation, die man in anderen Ländern findet, in denen man nicht alles versteht. Wenn ich einkaufen gehe und alles ist in einer fremden Sprache, dann bin ich weniger abgelenkt. Das hilft mir, mich aufs Schreiben zu konzentrieren.“
Als er sich nach Beendigung des Interviews von seinem Stuhl erhebt, bleibt er freundlich und gesprächig, auch wenn man weiß, dass er nun gerne mit seinem Bruder und seinen Freunden losgehen würde. Denn auch wenn er in seinen Texten mit Vorliebe die dunklen Seiten der Geschichte behandelt, scheint er jetzt froh, die schweren Themen ein wenig ruhen lassen zu können und beendet das Gespräch mit einem Scherz über Geheimpolizei und Spione.
Auf die Frage, was er als nächstes schreiben wird, antwortet er lachend: „Oh, ich weiß noch nicht. Vielleicht irgendetwas Positives und sehr Schönes.“