Transcript 2001 - 2014

Sehr geehrte Frau Bender,
Im September 2012 erschien im Dietz Verlag das von Ihnen herausgegebene Buch „Syrien – Der schwierige Weg in die Freiheit“ mit Beiträgen 19 syrischer und deutscher Autoren? Wie entstand die Idee zu dem Projekt?

Im März 2011 kam es in Syrien zu den ersten Protesten gegen die Staatsgewalt, die sich schon bald zu einer richtigen Revolution ausweiteten. Viele junge Syrer hatten sich angesichts der Entwicklungen in Tunesien, Ägypten und Libyen Gedanken darüber gemacht, wie auch sie in ihrem Land eine Protestbewegung gegen das Regime ins Leben rufen könnten.
Allerdings ist Syrien seit Jahrzehnten eine brutale Diktatur, in der jede Äußerung gegen das Regime mit Gefängnis bestraft wird, Tausende Syrer wurden ins Exil getrieben.
Aufgrund der äußerst gewalttätigen Niederschlagung der ersten Demonstrationen hat sich die Protestbewegung sehr rasch auf das ganze Land und zu einer richtigen Revolution ausgeweitet.
In den deutschen Medien war Syrien immer ein blinder Fleck. Zum einen schottete sich das Land ziemlich ab – manche Journalisten bemühten sich jahrelang vergeblich um ein Visum –, zum anderen galt Syrien als Teil der Achse des Bösen. Deshalb war die Berichterstattung über die Protestbewegung zu Beginn auch sehr spärlich.
Da ich seit über dreißig Jahren sehr eng mit dem Land verbunden bin, wollte ich einen Beitrag dazu leisten, die Motive der Demonstranten in Syrien deutlich zu machen – zumal viele Menschen – auch in Deutschland –  auf die Rhetorik des Regimes hereinfielen und die Protestierenden für Terroristen hielten, sogar schon zu einer Zeit, als sich die Revolution noch gar nicht bewaffnet hatte. Es war mir sehr wichtig zu zeigen, dass die Menschen für Freiheit und Menschenwürde demonstrierten. Sie haben über vierzig Jahre unter einer Diktatur gelebt und wollen dieses Regime nun abschütteln.

Wie entstanden die Geschichten, und welche haben Sie besonders berührt?

Ziel des Buches war ja auch aufzuzeigen, wie diese Diktatur entstanden ist, welche Versuche der Opposition es gab, sich für Reformen einzusetzen und wie brutal das Regime darauf reagierte. Das sind meiner Meinung sehr wichtige, aber allgemeine Hintergrundinformationen. Besonders berührend fand ich die persönlichen Texte der zum Teil jungen Leute, die beschreiben, wie sich das Land schon innerhalb eines Jahres seit Beginn der Revolution verändert hat, wie die Barriere der Angst überwunden wurde, und was sie selbst erlebten.

Welche Rolle spielt die Kunst in Syrien sowie in anderen arabischsprachigen Ländern momentan?

Die Kunst spielt eine sehr große Rolle in den Revolutionen. Kunst in Syrien war ja immer reglementiert. Alles unterlag einer großen allgemeinen Zensur, abgesehen von der direkten Zensur durch die Zensurbehörde. Alles musste sich dem großen Ganzen – der Politik der Baath-Partei – unterordnen. Der Schriftstellerverband, der Journalistenverband, der Künstlerverband, alles wurde von der Baath-Partei beherrscht, die ja sogar laut Verfassung die Partei des Staates und der Gesellschaft ist. Es war in den letzten Jahren, als das Land sich gar nicht mehr gegen eine Öffnung nach außen wehren konnte, weil das Internet und die Satellitensender Einzug gehalten hatten, bedauerlich zu sehen, wie junge Menschen sich künstlerisch ausdrücken wollten, aber immer an die eng gesetzten staatlichen Grenzen stießen. Das ist jetzt vorbei. Es hat sich eine ungeheure Kreativität Bahn gebrochen. Die Kunst ist jetzt überall präsent, Maler, Karikaturisten, Fotografen, Filmemacher, Theaterleute, Schriftsteller nutzen die neue Freiheit und verarbeiten die Ereignisse künstlerisch und medial. Es sind wirklich grandiose Werke entstanden. Ich bewundere diese Menschen sehr, denn manche setzen damit ihr Leben aufs Spiel, und so viele sind ja auch schon gestorben.

Wie verarbeiten die Autoren die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage literarisch?

Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben die Revolution dokumentiert, wie zum Beispiel Samar Yazbek oder Rosa Yassin Hassan. Sie haben während der ganzen Zeit Texte geschrieben, Details gesammelt und arbeiten jetzt an Romanen über die Revolution. Andere haben bereits einen Revolutionsroman geschrieben, wie die in Paris lebende Schriftstellerin Maha Hassan oder der in den Emiraten lebende Abdallah Maksour. Aber ich glaube, die große Literatur über die Revolution wird erst in einigen Jahren entstehen. Solche Ereignisse müssen langsam verarbeitet werden. Wenn wir die Situation mit Deutschland vergleichen, so kann man feststellen, dass sich in den letzten Jahren, also kurz bevor die letzten Überlebenden des Nazi-Regimes sterben, viele Autorinnen und Autoren sehr intensiv mit der deutschen Diktatur beschäftigten, also noch nach über sechzig, siebzig Jahren.

Was ist bei der Lektüre des von Ihnen herausgegebenen Syrien-Bandes als Hintergrundinformation Ihrer Meinung nach wichtig?

Man sollte sich vielleicht vor Augen halten, dass das Konzept für das Buch im Herbst 2011 entstand. Ein paar Monate vorher hatte sich aus desertierten Soldaten die Freie Syrische Armee gegründet, die es sich zunächst zur Aufgabe gemacht hatte, die Demonstrationen zu schützen. Die militärische Situation war also mit der heutigen nicht zu vergleichen. Als die Autorinnen und Autoren ihre Artikel schrieben – das war zwischen März und Mai 2012 –, war trotz der schon beginnenden Ausweitung der militärischen Aktionen die Hoffnung noch groß, dass es irgendwie zu einem Rücktritt Assads kommen wird, dass das Land einen friedlichen Übergang bewerkstelligen werde. Diese Hoffnung schwindet nun immer mehr. Die Anzahl der Toten ist auf mindestens 70.000 gestiegen, wahrscheinlich sind es weitaus mehr. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind etwa vier Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen, darunter etwa zwei Millionen Binnenflüchtlinge, eine Million Menschen leben als Flüchtlinge in den Nachbarländern, ungefähr eine Million ist laut UN von Hunger bedroht. Und es gibt keine Aussicht auf ein Einlenken des Regimes.
Das heißt, dass sich die Situation in Syrien seit dem Schreiben der Beiträge bis heute sehr verändert hat, die aktuelle Situation also nicht mehr im Buch abgebildet wird. Die Artikel selbst haben aber deshalb nicht an Aktualität verloren.

Wie sind die Reaktionen auf das Buch?

Die Reaktionen waren durchweg positiv, insbesondere weil es so wenig Literatur über Syrien gab. Und da das Buch sich ausschließlich mit Syrien beschäftigt – also kein Rundumschlag über die Länder der Arabellion ist – und viele Syrer selbst zu Wort kommen, ist es etwas Besonderes, was durchaus gewürdigt wurde. Bemängelt wurde mitunter, dass die Revolution zu positiv dargestellt sei, dass nicht auf die dschihadistische Bewegung eingegangen wurde, aber diese war wie gesagt zum Zeitpunkt des Verfassens der Artikel praktisch nicht existent. Vor der Gefahr, dass sich die bewaffnete Revolution teilweise in eine dschihadistische Bewegung verwandeln könnte, hat Yassin Al Haj Saleh in seinem Beitrag allerdings durchaus hingewiesen.

Was ist seitdem aus den syrischen Autoren geworden?

Sechs der syrischen Autorinnen und Autoren mussten das Land aufgrund der Ereignisse verlassen, weil es für sie zu gefährlich wurde. Zum Zeitpunkt des Verfassens der Texte waren einige schon geflohen, andere erst danach. Einige von ihnen waren bereits in Haft gewesen oder es drohte eine Verhaftung. Vier Autoren leben noch in Syrien, zum Teil im Untergrund. Die Situation ist sehr schwierig für sie. Sie sind bekannte Oppositionelle und engagieren sich im humanitären Bereich und äußern ihre Meinung deutlich in arabischen und internationalen Medien sowie auf Facebook. Aber auch wegen der schwierigen Lebensumstände. Je nach Stadtviertel fällt auch in Damaskus häufig der Strom aus, dann sind sie von der Außenwelt abgeschnitten, weil ja auch das Internet nicht funktioniert. Zusätzlich sind die Lebensmittelpreise enorm gestiegen, Öl und Gas zum Heizen und Kochen ist entweder fast unbezahlbar oder nicht erhältlich, und es war der kälteste Winter seit Jahren. Sie sind dringend auf unsere Unterstützung und Solidarität angewiesen.

Das Interview wurde Ende Februar/Anfang März 2013 von Katrin Thomaneck geführt. Einen Auszug aus dem Buch finden Sie hier.

Larissa Bender