Transcript 2001 - 2014

Die renommierte Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Alida Bremer zeichnet in ihrem Debütroman nicht nur ein fesselndes Familienporträt sondern erzählt auch kenntnisreich von der konfliktreichen Geschichte eines Landes.
Die Erzählerin, die schon seit langem in Deutschland lebt, erfährt eines Tages, dass sie in Vodice, an der östlichen Adriaküste, einen Olivenhain geerbt hat. Eine spannende Odyssee beginnt, in deren Verlauf das Porträt einer weitverzweigten Familie und eines zerrissenen Landes aufgezeigt wird.

Insel Hvar, 2008

Ich stand in der Sonne und im Wind, gelehnt an die Reling der breiten, langsamen Fähre, die für kurze Zeit in eine Wolke aus Abgasen, dem Duft von frischem Weißbrot – denn einer der Lastwagen war voll beladen damit -, Salz und ausgelaufenem Maschinenöl gehüllt war und sich nun aus dieser heraus und immer weiter vom Hafen entfernte. Ein letzter Gruß an den Leuchtturm auf dem Molenkopf, und schon waren wir im Kanal von Brač. Unter dem Arm trug ich die Zeitung „Slobodna Dalmacija“, „Freies Dalmatien“, dieser Name stammte noch aus den Zeiten des Befreiungskriegs der Partisanen und hatte die neuzeitliche Privatisierung überlebt – ich war voller freudiger Erwartung.

Ich kann in vielen Situationen glücklich sein, aber nur eine vermittelt mir die Gewissheit, dass das Absolute existiert: Der Moment, in dem eine Fähre den Hafen von Split in Richtung der Insel Brač verlässt und ich gleichzeitig die Stimmen der Matrosen und der Passagiere höre und weiß, dass ich mich mit der „Slobodna Dalmacija“ und einer Tasse Kaffee in den Salon setzen werde. Ich werde den Gesprächen der Inselbewohner lauschen, die in aller Herrgottsfrühe ihre Stadtgeschäfte (Arzt-, Bank- und Behördenbesuche) erledigt haben und jetzt schon die Rückfahrt antreten, ich werde die Meldungen aus der Region und die Todesanzeigen lesen und noch eine Tasse Kaffee an der Theke bestellen, der Schiffsmotor wird die Bretter unter meinen Füßen dumpf vibrieren lassen:

Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Ich zögerte bewusst mein Glück hinaus und stand an das weiß gestrichene Geländer gelehnt, unter mir das Kielwasser. Die mit weißen Schaumblüten bespickte dunkelblaue Masse, die breite Spur, die zum Sprung einlädt. Wenn ich sterbe, verstreut meine Asche in das Kielwasser einer Fähre an der Adria und geht danach in den Schiffssalon! Ich war mir nicht sicher, ob das Verstreuen der Asche den EU-Vorschriften entsprechen würde, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.

Split entfernte sich; von der Sonne beleuchtet, stach die Spitze des Turms der Kathedrale in den Himmel. Sicher, ich hätte das alles viel öfter erleben können, hätte ich mich entschieden, auf einer der Inseln zu wohnen oder zumindest in meiner Geburtsstadt zu bleiben und regelmäßig auf eine der Inseln zu fahren. Ich sah in den weißen Schaum, und ich wollte der Frage, warum ich diesen und nicht einen anderen Lebensweg gewählt hatte, nicht nachgehen.
[…]

Das Haus meiner Tante befindet sich auf dem Berg oberhalb der Küste, eine halbe Stunde Fahrt entfernt, und nachdem ich ziellos herumgeirrt war, bewegt von süßem Schmerz und diffusen Sehnsüchten, saß ich als einzige Reisende in einem kleinen Bus und lauschte der leisen Radiomusik, die der Fahrer für uns beide ausgewählt hatte.

„Siehst du“, empfing mich Tante Mirta an der Steintreppe, die zur ersten Etage ihres Hauses führte, „meine Insel ist fast so entlegen, wie dein Münster. Und ich bin hier fast genauso in der Fremde, wie du dort.“
[…]

Im Winter wohnten in diesem Dorf nur wenige alte Leute, die sich in allen Belangen auf Mirta verließen – es hieß immer, sie sei die jüngste. Ich hatte bisweilen den Eindruck, dass hier ein alter Bewohner durch einen anderen alten Bewohner ersetzt wurde, während die Jungen nur ab und zu in den Ferien auftauchten. Die Jungen waren die Kinder und die Enkelkinder dieser Alten oder eben solche Nichten wie ich, die tief in ihrer Seele wussten, dass dieses Dorf alle Bedingungen erfüllt, als Paradies angesehen zu werden, die jedoch tausend Gründe hatten – so wie auch ich –, anderswo zu leben.

Mirta hatte sich damals anders entschieden. Sie war vermutlich die einzige junge Person seit Jahrhunderten, die von anderswo hierhergekommen war, um zu bleiben. Sie hatte ihren Mann gewählt und mit ihm diesen Ort, an dem er seine alten Eltern pflegen wollte, und er war fest entschlossen, auch nach dem Tod seiner Eltern hier zu bleiben. Mirtas Schwiegereltern ruhten jetzt unter Zypressen am Berghang mit Blick auf das glitzernde Blau der Adria, und während der kleine Bus an den weißen Steinplatten vorbeifuhr, die die Gräber bedeckten, dachte ich kurz darüber nach, dass dieser Friedhof eine ernsthafte Alternative zur Asche im Kielwasser sei.
[…]

Sich von der Welt abwenden, um ein einsames Leben im Herzen des Mittelmeers, am Sehnsuchtsort von Millionen zu führen – war es Flucht oder Herausforderung?

Sie hatte uns zu einer Tageszeit zwischen Mittag- und Abendessen („Dass du so spät gekommen bist! Was hast du denn unten im Hafen gemacht?“, fragte sie vorwurfsvoll) Artischocken mit frischen Erbsen und dicken Bohnen nach einem uralten Rezept der Insel zubereitet. Für derartige Gerichte müssen alle Zutaten in Greifweite sein, denn eine Insel kann jederzeit vom Festland abgeschnitten werden, es reicht schon ein etwas kräftigerer Bora-Wind, und die Schiffe und Fähren können nicht mehr fahren. So waren Knoblauch, Petersilie und Olivenöl, Wein und Zitrone alle aus eigener Zucht, sogar die Semmelbrösel, mit denen man alle mediterranen Soßen andickt, waren aus hausgemachtem Zwieback gerieben. Mirta und ihr Mann zeigten mir, wie man Artischocken richtig isst. Im Schatten der Weinpergola saßen sie einander gegenüber am langen Tisch hinter ihrem Haus, nahmen vorsichtig mit ihren kräftigen, braungebrannten Fingern die einzelnen Blätter der großen grünen Knospen, trennten sie vom Boden und saugten an ihnen, bis sie das weiche Fruchtfleisch vollständig von den harten Fasern in der Mitte des Blattes abgelöst hatten. Den Boden, eigentlich das Herz der Artischocke, muss man sich für den Schluss aufbewahren, und all dieses vorsichtige Lutschen und Saugen an den dicken Blättern gehört zur Vorfreude, die zum Gipfel der Wonne führt. Ich fühlte mich in einen Film oder eine Fernsehwerbung versetzt, in denen die mediterrane Kulisse eingesetzt wird, um ein bestimmtes Begehren zu erwecken.

Da saßen meine Tante und ihr Mann, zwei in die Jahre gekommene Liebende, beide überhaupt nicht dem Bildungsideal und dem politischen Aktivismus meiner Urgroßmutter entsprechend – die Tante hatte in den Kriegsjahren im Flüchtlingslager in Afrika lesen und schreiben gelernt, der Onkel hatte sich diese Fertigkeiten vom Dorfpfarrer beibringen lassen, das war alles, was sie an Bildung im strengen Sinne vorzuweisen hatten – , beide waren kaum je anderswo gewesen, als hier auf ihrer fesselnd schönen Terrasse, und sahen dabei weniger aus wie zwei alte Leute in ihrem kroatischen Zuhause, sondern eher wie Gina Lollobrigida und ein Hollywood-Liebhaber irgendwo an der Côte d’Azur in einem geheimen Liebesnest. Sie zelebrierten ihr Essen in andächtiger Stille, sahen sich ab und zu tief in die Augen, wenn sie – nachdem sie sich jedes Mal die Finger in kleinen Porzellanschalen mit Zitronenwasser gewaschen und mit weißen, gebügelten und gestärkten Stoffservietten abgetrocknet hatten – ihre Weingläser erhoben, um sich gegenseitig Glück zu wünschen.
[…]

IMG_2491

Split, 2008

Wenn sich Schriftsteller von Rang – in Berlin oder Paris – an ihre Kindheit erinnern, dann laufen sie in Gedanken durch dunkle Zimmer mit polierten Möbeln und hohen Stuckdecken, zerlegen ihre Holzpferde und Puppenstuben oder elektrische Modelleisenbahnen, sitzen in verzauberten Gärten unter Obstbäumen in Ostpreußen, tunken kleine Gebäckstücke in Tee, oder sie haben eine schweigsame, aber liebevolle Tante, die ihnen den Umgang mit Silberbesteck beibringt. Sie haben einen angeheirateten Onkel, der Mediziner und Forscher ist, und Großeltern, die früher die Villen in der Provence oder die Kurorte der Habsburger Monarchie unsicher gemacht haben, der Großvater hat in Wien studiert, und die Großmama trug ein Spitzenkleid, in dem sie auf der Tanzfläche eines Grazer Schlosses wie eine Gräfin wirkte. Sie wurden mit Wasser aus einer silbernen Schale getauft, die sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz befindet, sie haben ihren Klavierlehrer gehasst und unter den strengen Blicken ihrer englischen Gouvernante gelitten. Ihre ersten sexuellen Erfahrungen machten sie mit einer rotwangigen Dienstmagd – und nicht nur deshalb flüchteten sie häufig in die Zauberwelt der Bibliotheken ihrer Väter, die nach Pfeifentabak und alten Folianten rochen, was sich später gewiss auf ihr Werk auswirkte.

Was kann man dagegen mit einer unspektakulären Kindheit in einer Gegend anfangen, von der kaum etwas bekannt ist und die sich hartnäckig am Rande der Welt hält? Mit einem heruntergekommenen Bauernhof, der 1992 in Schutt und Asche gelegt wurde, und mit einem Urgroßvater, der es in der österreichisch-ungarischen Armee nur bis zum Unteroffizier gebracht hat? Sein Cousin, ein Großonkel meines Vaters, wurde 105 Jahre alt, aber mit Ausnahme seines Ratschlages Jeden Morgen ein Schnäpschen, nur ja keine Aufregung und am 80. Geburtstag mit dem Rauchen aufhören, den man vielleicht werbetechnisch für die hierzulande aufblühende Wellnessbranche nutzen könnte, gibt dieser Umstand literarisch gesehen herzlich wenig her.

Nur die Geschichte der Familie meiner Mutter verlangt förmlich erzählt zu werden – wie unwirklich auch immer sie mir vorkam, wenn ich den blauen Himmel, die weißen Möwen und das blaue Meer sah und vor allem die salzige Luft einatmete. Denn es scheint unmöglich, inmitten dieser Schönheit so etwas erlebt zu haben.

[…]

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Eichborn-Verlages/Bastei Lübbe GmbH