Transcript 2001 - 2014

Interview mit Viken Berberian

Von Emmanuel Gros
Originalsprache: Englisch
Übersetzung ins Deutsche von Andreas Jandl
Thema: Armenien
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Sie wurden im Libanon geboren, haben in den USA gelebt, in England studiert, sind dann nach Frankreich gegangen und haben dort in Marseille und Paris gewohnt. Woher kommt Ihr Interesse an Armenien und warum haben Sie sich kürzlich dort niedergelassen?

Ja, das klingt zunächst nach planlosen, peripatetischen Wegen, die ich da beschritten habe, doch war das nicht der Fall. Ich versuche immer, eine gewisse Zeit an einem Ort zu bleiben, und die Wahl einer Stadt oder eines Landes ist daher bedachter und gezielter, als es scheinen mag. Ich bin kein großer Wanderfreund. Bis man einen Ort versteht, seine Mythen und Sprache, braucht es Zeit, und noch schöner wird so ein Aufenthalt, wenn diese Zeit mit Arbeit verbunden ist, egal ob an einem Buch oder in einer Firma. Alles fließt ein ins Schreiben, und neue Städte schärfen die Sinne und verändern das Empfinden. Man muss Neues lernen, sich anpassen und Dinge anders sehen, was einer der Gründe ist, warum meine Familie und ich hier hergezogen sind. Das Interesse gab es schon immer, weil meine erste Sprache, obwohl wir damals in Beirut lebten, das Armenische war. Armenien gehört zu meiner ersten Identität, später wurde der Einfluss schwächer, und ich erarbeitete mir andere Städte und Mythen bis hin zu dieser polyglotten Identität.

Was ist besonders an der armenischen Literatur? Wer sind Ihre Lieblingsautoren und wie haben Sie deren Werke entdeckt?

Bei den zeitgenössischen Autoren mag ich sehr die Kurzgeschichten von Aram Pachyan. Sie sind surreal, brutal und tragisch. Eine heißt Toronto, eine Stadt, die er nie gesehen hat. Für mich beschreibt er darin dieses tiefe Gefühl von Aufbruch und Migration, das für die Armenier so bedeutsam ist, ein Thema, das in der heutigen Literatur erstaunlicherweise kaum vorkommt, obwohl das Land seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine massive Abwanderung in Gegenden erlebt hat, die reicher sind, zumindest in der Vorstellung der Auswanderer, die sich ihr Toronto erträumen. Ich will sie nicht kritisieren. Auswanderung ist das Ergebnis von legitimen wirtschaftlichen und politischen Imperativen, und die Armenier, anders als ihre georgischen Nachbarn, haben das Land seit Jahrhunderten verlassen. Die [armenische] Diaspora ist der Beleg dafür, während die georgische relativ klein ist, und die Auswanderung dort weniger auffällig, weil es, anders als in Armenien, eine recht stabile Wirtschaft und transparente Machtstrukturen gab. Transparent im wahrsten Sinne des Wortes. In Tiflis gibt es eine gläserne Polizeiwache, und man kann sehen, was darin geschieht, wenn man im Auto daran vorbeifährt. In Jerewan hingegen sind die Machtgefüge nicht so durchsichtig und zentrifugal.
Wie ich Arams Texte entdeckte? Zuerst lernte ich ihn persönlich in einem Buchladen kennen, dessen Name auf das sowjetische Erbe verweist: „Bureaucrat“. Aram arbeitete damals dort. Ich mag auch die Texte von Raffi [Hakob Melik-Hakobian], der im späten 19. Jahrhundert in Tiflis starb, wie viele der großen armenischen Intellektuellen. Seine Texte lernte ich in der Schule kennen, und sie klingen immer noch in mir nach. Einer seiner Romane, Khente (Der Verrückte) erzählt von einem Spion, der sich als Dorfdepp tarnt. Irgendwie muss diese Idee meinen ersten Roman, The Cyclist (Der Radfahrer), beeinflusst haben, dieses beobachtet werden und heimlich beobachten. Dann möchte ich noch Gurdjieff nennen, der in Gjumri geboren wurde, und Nina Berberowa, die dem französischen Verlag Actes Sud lange vor Paul Auster zu Bekanntheit verhalf, was fast wie ein modernes Märchen klingt.

Wie lange wohnen Sie schon hier und was sind die Unterscheide, die Sie im Alltag erleben – im Vergleich zu ihren bisherigen Wohnorten?

Ich lebe mit meiner Familie seit bald zwei Jahren hier. Mein Frau, [die Filmemacherin] Garine Torossian, hatte ein Jahr Arbeit für ihren jüngsten Film veranschlagt, aber das Projekt verlängerte sich. Sie ist schon viel weiter als ich mit ihrer Arbeit. Der Film Noise of Time (Geräusch der Zeit), dessen Drehbuch wir zusammen schrieben, befindet sich jetzt in der Postproduktion. Ein großer Unterschied im Vergleich zu anderen Städten, in denen wir gelebt haben, war für uns beide die Erkenntnis, dass Matratzen hier sehr, sehr unbequem sind. Folglich litten wir gewaltig. Mir kam dadurch die Idee zur gleichnamigen Geschichte „Matratze“, in der ich aus der Perspektive einer russischen Matratze erzähle, die zahlreiche Besitzer hatte, unter anderem eine Familie aus Odessa. Momentan suche ich das passende Schlafzimmer für diese Geschichte. Ein anderer sichtbarer Unterschied zeigt sich im geringen Vertrauen in die Regierung. Bekannterweise ist das Misstrauen in öffentliche Amtsträger in vielen Ländern verbreitet. In Armenien ist es spürbar größer. Vor einigen Wochen wurden die Bürger mit 5.000 Dram-Scheinen (10 Euro) dazu angehalten, für den Kandidaten der regierenden republikanischen Partei, den amtierenden Präsidenten, zu stimmen. Aber wenn es nur das wäre. Die Ergebnisse [der jüngsten Wahlen] wurden entgegen den Versicherungen westlicher Beobachter in großem Umfang, und wie jetzt deutlich wird, auch systematisch verfälscht. Ich stütze meine Beobachtungen auf eine nicht wissenschaftliche Befragung, die ich in den Tagen vor und nach den Wahlen mit 53 stichprobenartig ausgewählten Taxifahrern und Passanten durchgeführt habe. Die Leute stimmten mit großer Mehrheit für die Opposition, viele auch nach Einstreichen der 5.000 Dram-Scheine, doch blieben die Oligarchen irgendwie an der Macht. Im benachbarten Georgien hätte die Zivilgesellschaft so ein Ergebnis beanstandet, hier bestand die Antwort aus recht viel Resignation und Angst, aus dem zeitweiligen Triumph deterministischer Kräfte über den freien Willen. In diesem Umfeld von Korruption und Vetternwirtschaft schreiben meine Kollegen.

Aus der Fotoserie

Aus der Fotoserie „Parliamentary Elections“ von Anahit Hayrapetyan


Ihre Kurzgeschichte
Le Plagiaire (Der Plagiator), die in der aktuellen Ausgabe des französischen Literaturmagazins Décapage erschien [Januar 2013], spielt in Paris und ist von der französischen Kultur durchdrungen. Hat Armenien den gleichen Einfluss auf Ihr Schreiben?

Wahrscheinlich schon, auch wenn ich Ihnen dazu keine Angabe in Prozent machen könnte. Man kann schwerlich an einem Ort wohnen, ohne dass er unsere Empfindungsweise und Weltsicht beeinflusst, aber das ist ja Teil des Projekts – sich eher beeinflussen zu lassen statt zu beeinflussen. Hier herzukommen war für uns kein vorübergehender Ausflug. Wir haben uns nicht so verliebt, wie es in Paris der Fall war, doch ist Jerewan jetzt unser zu Hause. Hier lernen wir, haben unsere Projekte und vielleicht auch Kinder. Hoffentlich können wir dazu bald empirische Beweise vorlegen. Die Vorstellung, dass Armenien meine Texte durchdringt, finde ich auf jeden Fall faszinierend, wahrscheinlich weil das Land immer noch keine klare wirtschaftliche und politische Bahn hat. In den über zwanzig Jahren seit seiner Unabhängigkeit hat es einige tiefe Erschütterungen erlebt, politische wie geophysische, und wurde dem zufolge chaotisch und regenerativ. Dann wiederum gibt es einige Stauungen, da zwei Landesgrenzen offiziell geschlossen sind. Im Zentrum dieser unsicheren Änderungen und geschlossen Grenzen zu leben ist sehr inspirierend und schlägt sich wahrscheinlich auf unerwartete und hoffentlich originelle Weise in den Figuren meines neuen Romans nieder. In diesem Buch geht es nicht speziell um Armenien, und doch ist es stark beeinflusst von den Erfahrungen und Recherchen, die ich in den letzten zwei Jahren hier im südlichen Kaukasus gemacht habe. Es geht um einen Ort zwischen der Zukunft und einer Vergangenheit, die er nicht loslassen will, ein Land das am Druck extremer Entvölkerung leidet. Dies ist eine ziemlich tragische Realität und gleichzeitig eine aufregende Wohngeographie, da auch in den schlimmsten Gegebenheiten und kaputtesten Stadtlandschaften sich immer Winkel und Ecken finden, in denen es Hoffnung gibt.

From the photo story "Khtsaberd" by Anahit Hayrapetyan