Der Hund, der seine Wunden leckt
von Jordi Puntí
Aus dem Katalanischen von Theres Moser, erschienen in Erhöhte Temperatur © Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2007
Ich gebe gerne zu, dass mir immer schon missfallen hat, wie sanft Erinnerungen sterben, mehr noch missfällt mir aber, wie folgsam sie sich wieder hervorholen lassen, wenn wir sie brauchen, mit welchem Eifer sie ins Netz gehen, wenn sie wissen, dass zwei abgeschnittene Fäden wieder verbunden werden können. Jetzt zum Beispiel hätte ich das Bedürfnis, im Sommer die Tür eines Wohnwagens aufzumachen, hineinzuschlüpfen und ein Mittagsschläfchen zu halten, einzuschlafen, während ich höre, wie meine Frau draußen Radio hört, lustlos in einerCosmopolitan blättert oder zur Entspannung einen über siebenhundert Seiten langen Roman liest, aber ein lang zurückliegender, schon verschwommener und farblos gewordener Sonntagnachmittag fordert beharrlich meine Aufmerksamkeit wie ein quirliges Kind, das endlich die Antwort auf die Frage weiß und die Hand hebt, um die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu ziehen.
Es muss ein kalter Nachmittag im März gewesen sein, und ich war etwa elf oder zwölf Jahre alt. In diesem Alter dehnen sich die Sonntage nach dem Mittagessen auf wunderbare Weise aus, wie in die Länge gezogene Pullover, und wir spielten draußen auf der Straße oder im Park mit den Nachbarskindern, bis es finster wurde und der erste besorgte Vater uns ermahnte, dass es Zeit wäre, nach Hause zu gehen. Im Halbdunkel fiel es uns dann schwer, in der Wiese den dort vor ein paar Stunden zurückgelassen Fallschirmspringer aus Plastik wiederzufinden, oder wir stritten, wer mehr Tore geschossen hatte, und wenn wir im bernsteinfarbenen Licht der ersten Laternen fröstelnd nach Hause radelten, empfanden wir eine unerklärliche kindliche Melancholie, und wir schrien wie verrückt, um sie zu verscheuchen. (Ich habe übrigens diese Eindrücke vor ein paar Jahren auf einer Fähre wieder erlebt: Das Meer war aufgepeitscht, der Himmel wurde dunkel, und zwei Jungen versuchten mit konzentrierter Mine Tischtennis zu spielen, doch der Wind trug ihnen ständig den Ball davon.)
Wenn nun jener Sonntag darauf pocht, dass ich mich an ihn erinnere, dann deshalb, weil die Dinge anders verliefen als sonst. Ich hatte das Mittagessen wie immer hinuntergeschlungen und wartete ungeduldig, dass die üblichen fünf Minuten vergingen – die Beine unter dem Tisch waren schon zappelig – und der Vater mich aus dem Haus laufen ließ. Ich dürfte ihn geraume Zeit angestarrt oder seine Geduld mit einem meiner Tricks – aus den Brotkrumen Kügelchen zu formen oder mit der Gabel im Knorpel eines Beefsteaks zu stochern – erschöpft haben, denn plötzlich verstand er und teilte mir mit, dass wir am Nachmittag alle gemeinsam auf eine Messe gingen. Meine Mutter meinte, es würde mir sehr gefallen, du wirst sehen, aber ich hörte, dass in ihrer Stimme Ungläubigkeit mitschwang. Vielleicht deshalb, und weil ich es schon gelernt hatte, die beleidigte Leberwurst zu spielen, stand ich wortlos auf und ging in mein Zimmer. Ich erinnere mich daran, dass ich mich aufs Bett legte und an all die Jungen dachte, die von zu Hause ausreißen, wie ich es in den amerikanischen Filmen samstagnachmittags gesehen hatte, und fand, dass wir eine große Ähnlichkeit hatten, und so verging eine Weile, bis meine Mutter (ohne anzuklopfen) die Tür öffnete und sagte, ich solle mir die Schuhe anziehen und mich kämmen, da wir gleich aufbrechen würde, und ich die Fäuste ballte, allerdings ohne die Fingernägel hineinzugraben, weil ich Gitarre lernte.
Keine Frage, dass ich eine halbe Stunde später an der Hand meiner Mutter wütend und schmollend über das Messegelände ging, bald jedoch schon nur noch so tun musste, als würde es mir keinen Spaß machen. In den Pavillon für Viehzucht, der nach feuchtem Stroh stank, ließ sich ein verschrecktes Schaf von meiner scheuen Hand streicheln, und kurz darauf hievte mich mein Vater auf einen riesigen Traktor, der für ein paar Minuten zum Formel-1-Wagen von Emerson Fittipaldi wurde. An einem Stand kauften mir meine Eltern eine dieser Wolken, die wie Baumwollwatte aussehen, aber aus Zucker sind, und während wir an glänzenden Motorsägen, grobknochigen, dampfenden Tieren und vernickelten Kaninchenkäfigen vorbeispazierten, schien sich meine Niedergeschlagenheit mit dem Zucker im Mund aufzulösen. Möglicherweise dachte ich in jenem Augenblick bereits nicht mehr an die Freunde in meinem Viertel und an den hin- und herfliegenden Ball, doch dann kamen wir an einem Stand vorbei, an dem sich eine Menschentraube gebildet hatte, und blieben stehen. Dort wurde ein Farbfernseher ausgestellt, einer der ersten auf dem Markt, und alle drängten mit ehrfürchtiger Mine zu ihm, reckten die Hälse und versuchten, etwas zu sehen. Ich ließ die Hand meiner Mutter los und lief zwischen den Beinen der Leute bis ganz nach vorn, und dann konnte ich diese lebhaften Farben auf dem Bildschirm sehen, das Knallgrün des Rasens und die Trikots der Spieler hatten eine so reine und klare Farbe, dass man glaubte, sie anfassen zu können, und plötzlich dachte ich wieder an meine Freunde, die im Park neben unserem Haus dem Fußball hinterherliefen, und fühlte mich inmitten dieser Menschenmenge plötzlich sehr allein. Ohne auch nur einen Moment an meine Eltern zu denken, drängte ich mich durch die Menschenmenge nach draußen und begann durch die Gänge der Messe zu schlendern. Im Bereich der Wohnmobile und Wohnwagen schnitt mir eine lächelnde Hostess den Weg ab und fragte mich, ob ich mich verlaufen hätte, doch ich gab ihr keine Antwort: Ich wusste nicht, was ich tat, wich ihr, ohne zurückzublicken, aus und ging weiter. Dann kletterte ich in einen Wohnwagen. Es roch alles so neu, dass mir im ersten Moment leicht übel wurde. Aber seltsamerweise trösteten mich die zusammengeklappten Möbel, die noch unbenutzte Küche und die Vorhänge, die so klein und zerbrechlich wie Spielzeug wirkten. Ich überlegte nicht lange, sondern warf die Tür zu und drehte den Schlüssel um (die Hostess draußen musste glauben, ich würde einen Streich spielen, und klopfte leise gegen die Tür). Dann legte ich mich auf eines dieser Sofas, die sich zum Bett umklappen lassen, drückte die Augen ganz fest zu, um die schon aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, schloss den Mund und hielt den Atem an, um vielleicht so zu sterben.